Studium am Bodensee in Zeiten von Covid-19: Welche Bedeutung die digitale Lehre in und für die Region hat

15. November 2021 | | 4 Minuten Lesezeit

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Roland Scherer, Direktor des Instituts für Systemisches Management und Public Governance der Universität St.Gallen

Nach einer langen Phase digitaler Lehre läuft das Studium an den Hochschulen der Vierländerregion Bodensee aktuell größtenteils wieder im Präsenzunterricht. Eine Erleichterung nicht nur für die Studierenden, denn Corona hat in Universitätsstädten zu erheblichen finanziellen Einbußen geführt. Und gezeigt, wie wichtig die Verbindungen zwischen Hochschulen und der Region sind. „Vielen Städten ist es gar nicht bewusst, dass die Studierenden auch ein Wirtschaftsfaktor sind“, sagt Dr. Roland Scherer, Direktor des Instituts für Systemisches Management und Public Governance der Universität St. Gallen (HSG). Er führt im Auftrag des Rektorats der HSG jährlich eine Studie zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Hochschule auf die Region durch. Die diesjährige Sonderauswertung, die im Mai 2021 zu den monetären Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den Universitätsstandort St. Gallen publiziert wurde, zeigt auf, welche Folgen eine Abkehr vom Prinzip der «Präsenzuniversität» für den Kanton haben könnte.

So betrug die errechnete Wertschöpfung der HSG für den Kanton St. Gallen im Jahr 2019 rund 276,5 Millionen Schweizer Franken. Die Covid-19-Pandemie hat im Jahr 2020 für einen starken Dämpfer gesorgt. Wie die Analyse der monetären Effekte der HSG für den Kanton zeigt, ist die Wertschöpfung 2020 im Vergleich zum Vorjahr um gut 30 Millionen Franken zurückgegangen. Dieser Wert wurde mittels eines komplexen Wirkungsmodells errechnet, basierend auf Umfragen unter Studierenden und internen Weiterbildungsanbietern sowie der Analyse der Buchhaltungsdaten der Universität.

Fehlende Kaufkraft der Studierenden wirkt sich auf wirtschaftliche Einnahmen aus

Hauptgrund für den Rückgang sind tiefere Kaufkrafteffekte der Studierenden, die aufgrund des Fernunterrichts zeitweise nicht in St. Gallen waren. „Die Studierenden waren einfach nicht mehr vor Ort und haben damit nicht konsumiert. Keine Einkäufe beim Bäcker, im Supermarkt, kein Besuch der Gastronomie“, sagt Regionalökonom Roland Scherer. „Diese Effekte werden oft unterschätzt.“

Für die Stadt Konstanz schätzt Roland Scherer die Situation ähnlich ein: „An der HSG haben wir 9.000 Studierende, in Konstanz sind es rund 15.000. Da ein Großteil der Studierenden in Konstanz aus der näheren und weiteren Region kommt, gehe ich davon aus, dass sie während der Covid-Zeit nicht vor Ort waren, sondern bei sich zuhause geblieben sind.“ Dass dadurch enorme wirtschaftliche Einnahmen wegfallen, rechnet Roland Scherer vor: „In der Schweiz rechnet man mit 1.000 Franken Konsumausgaben während eines normalen Vorlesungsmonats, in Konstanz etwa mit 500 bis 600 Euro, jeweils zuzüglich der Miete. Bei 10.000 Studierenden, die dann vielleicht in Konstanz abwesend sind, sind das fünf Millionen Euro im Monat, die nicht in die Kassen kommen. Das ist schon eine Größenordnung, die man nicht unterschätzen darf.“

Ist die Lehre der Zukunft digital?

Ist die digitale Lehre für Hochschulstandorte also nicht attraktiv? „Eine reine Online-Lehre würde die entsprechenden Kaufkrafteffekte tatsächlich deutlich reduzieren“, so Scherer. Zukunftsmodell ist für ihn ein Hybridmodell, welches die digitale Lehre und den Präsenzunterricht verbindet. „Mit dem ortsungebundenen und digitalen Lernen können sicherlich spannende und innovative Lehrangebote geschaffen werden. Aber diese allein können nicht ein komplettes Studium ersetzen. Wir brauchen auch den persönlichen Kontakt und die physische Nähe für den Austausch, die Zusammenarbeit und auch die Reibung in der Lehre.“ Kurz gesagt: Für die Lehre der Zukunft ist beides nötig, das digitale und das „analoge“ Lernen vor Ort.

Regionale Wertschöpfung durch Hochschulen

Roland Scherer ist es wichtig, dass Hochschulorte wahrnehmen, dass Studierende ökonomisch relevant sind. In St. Gallen liegen die studentischen Ausgaben in der Region bei jährlich rund 150 Millionen Schweizer Franken. In Konstanz, so schätzt Roland Scherer, könnte der Wertschöpfungsbetrag der Studierenden pro Jahr bei etwa 200 bis 300 Millionen Euro liegen. „Aber über die Studierenden als Wirtschafts- und Wertschöpfungsfaktor wird nicht diskutiert. Dabei leisten sie ihren Beitrag zum städtischen Einkommen wie alle anderen Einwohnerinnen und Einwohner auch.“

In St. Gallen hat man dieses Problem mithilfe der jährlichen Studie zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der HSG auf die Region schon wahrgenommen. Alle zwei Jahre wird zudem eine breite Studie zu den regionalen Effekten der Universität durchgeführt, die über eine rein monetäre Bewertung weit hinausgeht. Diese Studie dient als Handlungsgrundlage für strategische Entscheidungen des Rektorats der HSG.

Im Jahr 2020 wurden erstmals auch konkrete Maßnahmen mit dem Rektorat in einer Regionalisierungsstrategie aufgestellt, in der Handlungsfelder und Zielgrößen definiert werden. Ziel dieser Strategie ist nicht nur den wirtschaftlichen Beitrag, der aus der HSG auf die Region wirkt, zu verstärken, sondern diesen Beitrag umfassen zu verstehen und auch den Betrag auf die Gesellschaft, die regionale Politik und auch auf die Umwelt zu berücksichtigen. Die Verantwortlichen haben in diesem Zusammenhang auch erkannt: „Wenn es keine Präsenzvorlesungen mehr in St. Gallen gibt, dann hat das negative Auswirkungen auf die Regionalwirtschaft“, wie es in der Zusammenfassung heißt.

Regionalisierungsstrategie der HSG definiert Handlungsfelder und Maßnahmen

So hat die HSG nun Ziele für ihre Regionalisierungsstrategie mit konkreten Ansatzpunkten für 2021 und 2022 formuliert, um damit ihre Auswirkung für die Region zu stärken. Darunter fallen unter anderem:

  • Sicherung und Ausbau der Präsenzuniversität, Bewusstseinsbildung über Nutzen der Präsenz von HSG-Studierenden und Mitarbeitenden im Kanton, Stärkung der regionalen Bindung
  • Ausbau der am regionalen Bedarf orientierten Aus- und Weiterbildungsangebote durch Austausch mit regionalen Organisationen zur stärkeren Integration regionaler Bedürfnisse beim Aufbau neuer Computer-Sciences-Angebote
  • Erhöhung der „Bleibequote“ der Absolventinnen und Absolventen in der Ostschweiz unter anderem durch Stärkung des regionalen Fokus der Career & Corporate Services, aktive Vermittlung von Praktika und Projekten in und mit regionalen Unternehmen
  • Erhöhung der Anzahl regionaler Start-ups und Spin-offs durch Mitarbeit an Initiativen zur Start-up-Förderung in der Ostschweiz und der internationalen Bodenseeregion
  • Schaffung neuer Kooperationsbeziehungen mit Unternehmen in Forschung und Lehre
  • Unterstützung von regionalen Initiativen durch HSG-Faculty sowie Etablierung der Diskursplattform DenkRaumBodensee für regionale Zukunftsthemen
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